Liebes Tagebuch (WS 2005/2006)

Liebes Tagebuch, heute möchte ich dir von meiner Chorreise erzählen. Das war ja wohl der totale Reinfall. So viele Vollidioten auf einem Haufen. Um noch mal ein Zitat zu bringen: Jeder hat irgendeine schlimme Macke. Gut, dass mir noch niemand gesagt hat, dass ich manchmal ein wenig zum Sarkasmus neige.

Es fing schon bei der Abfahrt an. Kaum jemand war pünktlich und Autos waren auch nicht genug da. Als dann auch noch der letzte Zuspätkommer einen auf Chef machte, nur weil er glaubte Geburtstag zu haben, war die Stimmung völlig im Eimer. Wie gesagt, zu wenig Autos, und ein Fahrer stank schlimmer als der Andere. Kurz: Die Auswahl des Autos war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Schließlich hatte ich mir aber doch noch einen der wenigen, begehrten Sitzplätze erkämpft, und musste nicht (wie einige andere) mit dem Kofferraum vorlieb nehmen, was ich angesichts des Geruchs aber doch manchmal vorgezogen hätte.

Mit nur 2 Stunden Verspätung ging es nun also endlich los. Mein Fahrer fuhr wie ne besengte Sau, so dass ich um mein Leben fürchtete. Hätte er die Ausfahrt nicht übersehen, wären wir vielleicht sogar schon nach 3 Stunden da gewesen. Meine Blase hätte sich zumindest gefreut. Anhalten war nicht drin, denn vorne hing ein Schild: Bitte während der Fahrt nicht dem Fahrer sprechen. Als ich es dann - mit schon schmerzverzerrtem Gesicht - doch wagte, mich an den Fahrer zu wenden, grummelte dieser nur irgendwas von kaputten Bremsen. Die letzten 5 km mussten wir schieben, da er nicht nur kein Geld für neue Bremsbelege hatte sondern auch keins für Sprit. Als wir schließlich mitten in der Nacht völlig fertig und ausgehungert ankamen, war das Abendessen fast (wie wir später feststellen mussten, leider nur fast) schon vorbei. Die Auswahl muss wohl mal gut gewesen sein, das was wir vorgesetzt bekamen war definitiv nicht mehr aus dieser Woche. Einer der wenigen positiven Aspekte der Chorfahrt: Wir mussten nicht abwaschen (den Krusten auf dem Geschirr nach zu urteilen hat das aber auch niemand anderes getan). Nicht zu vergessen wäre noch das lang ersehnte Klo: Auch hier hatte sich niemand die Arbeit gemacht zu putzen, was bei der einzigen Toilette für die ganze Anlage eigentlich ein Leichtes hätte sein müssen. Wenigstens saß man weich auf den toten Fliegen, die auf dem Holzrand des Plumpsklos an Sauerstoffmangel erstickt waren. Nach einer weiteren Stunde des Wartens in den eisigen Weiten des unbeheizten Gemeinschaftsraumes wurden in einer Art Scheindemokratie die Zimmer zugeteilt. Obwohl ich mich jedes Mal eifrig meldete, bekam ich als letzter einen Platz in einem der Zweibettzimmer. Mein Stubenkamerad stank erstaunlicherweise weniger als der schon erwähnte Fahrer, hatte allerdings, wie sich später herausstellte, eine noch größere Macke: er schnarchte, was nicht zuletzt der Grund dafür war, dass unser Zimmer doppelt schallisolierte Wände und Türen hatte, und nur 10 Minuten vom restlichen Gebäude entfernt war.
Nun eilten wir zu so genannten „Chorprobe“. Die lieben Möchtegernsänger waren bereits fleißig am „Einsingen“, wenn man das Hecheln und Verrenken so nennen kann. Für die Anleitung war sich das vorhin schon erwähnte Geburtstagskind, das immer noch den Ton angeben durfte, allerdings zu fein, so dass das unbeholfenste Chormitglied als Opfer ausgewählt wurde und sich vor allen bloßstellen musste. Anschließend wurden alle Zuspätkommer, unter anderem auch ich, von dem „Chorleiter“, wie er sich selbst nannte, zu einer nicht unerheblichen Geldstrafe verdonnert. Ein anderer Zuspätkommer, der immer erst mitten in der Nacht auftauchte wurde herzlich willkommen geheißen. Wie wir später herausfanden, gehörte er zur Chorleitung oder schlief mit einer der Leitung angehörenden Person.

Nun also zur „Probe“. Mehr als ein Probieren konnte man das wahrlich nicht nennen. Dieses Rumgejaule war ja nicht auszuhalten! Eine Teilschuld trifft auf jeden Fall den Tastenvergewaltiger, der wie ein Bekloppter auf das total verstimmte Klavier eindrosch, nur weil er kurz zuvor das kürzeste Streichholz gezogen hatte. Diese Tortur wurde von einem noch schlimmeren Ereignis abgelöst: Jeder bekam eine, natürlich gezinkte, Karte aus einem Kartenspiel, was bestimmte Leute dazu ermächtigte, zu anderen Chormitgliedern unerwünschten Körperkontakt aufzunehmen und damit auch noch durch einen öffentlichen Aushang zu prahlen. Komischerweise wollte mich niemand umarmen, vom Küssen ganz zu schweigen. In anschließenden „Gruppenspielen“, die wohl zum Gemeinschaftsbewusstsein beitragen sollten, wurde uns dann der letzte Funken unseres Selbstwertgefühls genommen. Zu erwähnen wäre noch die Vorstellungsrunde. Wie überflüssig! Die meisten kannten sich eh schon und obwohl ich schon bei der Gründung des Chores dabei war, hatte sich immer noch niemand meinen Namen gemerkt. Wenigstens musste ich dieses Mal nicht von meinem ersten Mal berichten. Auch hier war eine klare Hackordnung nicht zu übersehen. Der Höhepunkt des Abends war das angebliche Geburtstagskind, das einem geisteskranken Wildschwein gleich, wie von der Tarantel gestochen, quietschend über den Flur hüpfte.

Frohen Mutes freute ich mich nun auf eine erholsame Nacht. Als ich also um 23 Uhr schlafen gehen wollte, musste ich erstmal eine Stunde lang nach meinem Bettgenossen suchen, den ich schließlich besoffen mit irgendeiner Schlampe in der Ecke fand. Mein Schlaf wurde zum ersten Mal jäh gegen halb 3 unterbrochen, als sich mein stockbesoffener, nach frisch Erbrochenem riechender Schlafpartner zärtlich an mich kuschelte. Erst jetzt bemerkte ich, dass es in diesem Zimmer nur ein Bett gab. Wie hatte ich das nur übersehen können? In der beruhigenden Löffelchenstellung konnte ich schließlich doch einschlafen und wurde erst wieder um 5 wach, da mir der wohl schlimmste Schnarcher des gesamten Chores ins Ohr grunzte. Wenn er auch so laut singen könnte, würde man ihn problemlos raushören. Schließlich klingelte um 7 der Wecker. Ein bisschen Körperpflege wäre jetzt nett gewesen, aber der See war leider zugefroren.

Dann also ohne Zähneputzen zum Frühstück, was nicht weiter schlimm war da der pelzige Geschmack der Nacht angenehmer war als der der ranzigen Butter. Getränke (d.h. kaltes oder lauwarmes Leitungswasser) kosteten natürlich extra. Das erklärte auch die fehlenden Waschmöglichkeiten. An allen Tischen waren bereits sämtliche Plätze besetzt bzw. wurden für Leute, die schließlich doch nicht auftauchten, freigehalten, so dass ich mich zu dem Schimmel auf dem Fußboden gesellen musste. Die „Proben“ und das „Einsingen“ verliefen wie am Tag davor. Für die Einzelstimmenproben standen uns weitere unbeheizte Kammern mit verstimmten Instrumenten und ohne Fenster zur Verfügung. Die Dunkelheit erschwerte das Notenlesen nicht unerheblich. Zu hören war der Unterschied zu sonst allerdings nicht. Das Mittagessen untertraf unsere ohnehin schon niedrigen Erwartungen bei Weitem und löste bei mir einen spontanen Blutsturz aus. Nach 30 Minuten des Wartens bekamen wir endlich unsere Ration Brei. Dass wir zwischen den „Mahlzeiten“ und den „Proben“ kaum Freizeit hatten war nicht weiter schlimm, da die Haupttouristenattraktion des Dorfes aus dem Füttern der Enten am Teich bestand (allerdings auch nur bis Sonntag kurz vorm Mittagessen).

Die Spiele an diesem Abend waren, auch wenn schwer vorstellbar, noch demütigender als die am Vorabend. Wir durften mit verbundenen Augen gegen die Wand rennen, während der restliche Chor sich sektenähnlich in Trance summte. Später waren die Peinlichkeiten kaum noch zu ertragen. Einige Männer litten unter Realitätsverlust und glaubten Kinder zu bekommen während sich die Frauen plötzlich für Fußball begeisterten. Ihre mitgebrachten Nahrungsmittel verteidigten die Leute im Angesicht der Essenssituation bis aufs Blut. Auch der Alkohol floss in Strömen. Mir wollte allerdings niemand was abgeben, obwohl ich auf Knien bettelte. Lautstark grölte der völlig breite Chor gegen die Misstöne des Klaviers und der selbst zusammen gebastelten „Gitarre“ an.

So begab ich mich schließlich wieder auf den Weg in meine Hütte, wo die Nacht ähnlich der vorangegangenen verlief. Diesmal hatte ich allerdings daran gedacht, nachts ein Stück selbst mitgebrachtes, und damit wertvolles weil rares, Stück Toilettenpapier hinauszuhängen, das den Tau auffing, mit dem ich mich am nächsten Morgen waschen konnte. Mein Waschvorgang wurde abrupt unterbrochen, als wir Hals über Kopf aus dem Zimmer geworfen wurden. Unser Gepäck wurde als Pfand einbehalten, wofür weiß ich allerdings bis heute nicht.

Zum Mittag gab es diesmal Entenknorpel und –extremitäten, für die glücklichen Vegetarier fritierte Essensreste der vergangenen Woche. Nun war es fast überstanden. Nur noch eine kleine Gruppentherapie mussten wir über uns ergehen lassen. Dort lobten sich alle Führungspositionen des Chores selbst für ihre tolle Arbeit. Wir Niederen wurden nicht zu Wort gebeten. Den neuen Mitgliedern wurde für den Fall eines Austritts Gewalt angedroht. Dann wurden wir von einer Gruppe hochbegabter Blasmusiker aus dem Raum geworfen, was fotografisch unter dem Decknamen „Gruppenfoto“ dokumentiert wurde. Komischerweise stand ich plötzlich allein da und musste zurück nach Rostock trampen, was mir ein Erlebnis mit dem freundlichen Lastwagenfahrer einbrachte, über das ich aber nicht reden darf. Das waren wahrlich die rausgeworfensten 120 Euro (oder wie viel habt ihr bezahlt?) meines Lebens. Mir graut jetzt schon vor dem nächsten Horrortrip. So liebes Tagebuch, das war der erste Eintrag in das neue Heft, das Alte wurde für ein Gruppenspiel von der Chorleitung beschlagnahmt.

In Liebe

XXX

(der Autor möchte aus Einschüchterungsgründen unbekannt bleiben)

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